Raumgefühl. Warum Oberflächlichkeit wertvoll ist.
Räume sprechen, sobald man sie betritt. Nur sind wir es oft nicht gewohnt, zuzuhören. Zu schnell greifen wir zu Moodboards, zu Tapetenfächern, zu Empfehlungen von Stilberater:innen und Interieur-Trends.
Doch wer wirklich gestalten will, beginnt anders.
Indem er innehält.
Indem er dem Raum Respekt zollt.
Indem er sich fragt: Was ist hier eigentlich schon da? Und was will gesehen werden?
Denn jeder Raum trägt Spuren in sich. Böden, auf denen Menschen gelaufen sind. Wände, die Gespräche gehört, Spannungen gespeichert, Stille getragen haben. Fenster, die mehr zeigen als einen netten Ausblick.
Raum lesen statt Raum planen
Gute Gestaltung entsteht nicht aus dem, was wir hinzufügen – sondern aus dem, was wir wahrnehmen. Aus der Herkunft eines Raumes. Aus seinem Anlass. Aus seiner Geschichte. Aus dem Ort, an dem er steht. Aus dem, wofür er gebaut wurde – und aus dem, was durch ihn geschehen soll.
Wer das übersieht, überpinselt oft nur Symptome. Und wundert sich, wenn es „nicht passt“.
Ein ehemaliger Produktionsraum etwa will nicht kontemplativ sein. Genauso wenig wie ein Rückzugsort zu einer offenen Innovationsfläche werden kann. Räume haben Wesenszüge. Und wer mit ihnen arbeitet – statt gegen sie –, schafft nicht nur Atmosphäre. Sondern Substanz.
Der Körper als Maß
Es geht nicht nur um Architektur im Sinne von Volumen – es geht um Architektonik im Sinne von Körperlichkeit.
Räume werden begangen, bewohnt, durchquert. Das Maß ist immer der Mensch. Der Körper reagiert auf Proportionen, auf Schall, auf Übergänge zwischen Materialien.
Das nennt man taktile Intelligenz. Und sie ist mindestens so entscheidend wie jedes Moodboard, jeder Grundriss, jede Bauplanung.
Gestaltung beginnt im Körper. Und sie muss den Körper mitnehmen.
Nur dann wird Raum wirklich nutzbar – nicht nur technisch, sondern prozessual.
Stoffe, die Raum halten
In diesem Prozess geht es nicht um Trends. Sondern um Stofflichkeit im wortwörtlichen Sinn: Materialien, die tragen, übersetzen, verbinden. Farben, die sich nicht „mutig“ gegen das Bestehende stellen, sondern sich feinstofflich aus dem Vorhandenen entwickeln.
Möbel? Keine fertigen Lösungen, sondern Dialogpartner. Dinge, die verschiebbar bleiben. Flexibel. Bereit, mit dem Raum zu arbeiten, nicht ihn zu dominieren.
Und: Wer innen gestaltet, muss außen mitdenken. Denn jeder Blick hinaus verändert den Blick nach innen. Die Farben der Umgebung, das Licht der Tageszeit, die Struktur der Landschaft – sie alle formen mit.
Raumgestaltung als strategischer Prozess
Wirkliche Transformation im Raum funktioniert wie Markenentwicklung: sie ist prozessual, präzise, tief. Sie hat mit Zuhören zu tun, mit Recherche, mit Kontextbewusstsein.
Sie fragt nicht: Was ist schön?
Sondern: Was ist stimmig? Was ist gemeint? Was trägt langfristig?
Deko ist schnell. Aber sie hält nicht.
Nur Räume, die aus ihrem eigenen Wesen heraus weiterentwickelt wurden, bleiben robust. Sie wirken. Sie tragen.
Und nein – das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Es darf mutig sein, modern, reduziert oder expressiv. Aber eben nicht beliebig.
Denn in Wahrheit gilt hier nicht nur „form follows function“.
Sondern: Form follows essence.
Zum Schluss – eine gute Frage
Wenn Sie einen Raum betreten, in dem sich etwas ändern soll, stellen Sie nicht zuerst die Frage nach Farbe oder Funktion.
Sondern lieber “Was weiß dieser Raum – das ich erst noch verstehen muss?”